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Datum

17. March 2022

Autor

Luca Belci

Links die Stadt, rechts das Land – wo stehen die Agglomerationen?

Der Stadt-Land-Graben gehört zu den omnipräsenten Erklärungsansätzen für Abstimmungs- und Wahlresultate in der Schweiz. In der Souveränität ihrer Ausführungen vergleichen manche Politikexpert:innen nur Grossstädte mit ländlichen Kleingemeinden. Jedoch lebt fast die Hälfte der Bevölkerung in einer Agglomeration – ein Annäherungsversuch.

Schweizer Städte mögen im internationalen Vergleich oft klein erscheinen: Umgeben von europäischen Millionenmetropolen, kommt selbst Zürich nicht über 422 000 Einwohner:innen hinaus. Misst man die grösste Schweizer Stadt jedoch an der Grösse ihrer Agglomeration, liegt die Bevölkerungszahl von rund 1,4 Millionen Menschen (inkl. Stadt Zürich) durchaus in der Liga anderer Metropolitanräume.

Das ungleiche Verhältnis zwischen der Bevölkerungszahl der Kernstadt und derjenigen ihrer Umlandgemeinden steht exemplarisch für die starke Entwicklung der Agglomerationen seit ihren Ursprüngen in den 1920er-Jahren. Heute unterscheidet man primär suburbane und periurbane Agglomerationgsgemeinden. Suburbane Gemeinden sind meist nahe an der Kernstadt, die Siedlungsverdichtung ist bereits weit fortgeschritten. Periurbane Gemeinden befinden sich tendenziell an den Agglomerationsrändern und sind weiterhin von Einfamilienhäusern, kleinen Mehrfamilienhäusern und viel Grünfläche geprägt.

 
Städte und Agglomerationen in der Schweiz
Quelle: Bundesamt für Statistik BFS, 2014

 

 

Insgesamt leben in den Schweizer Agglomerationsgemeinden rund 3,95 Millionen Menschen, dies entspricht einem Anteil von 47 Prozent der Bevölkerung. In den Kernstädten wohnen hingegen nur 2,22 Millionen Menschen, entsprechend 26 Prozent der Bevölkerung (Quelle: BFS, ständige Wohnbevölkerung per 31.12.2018).

 

Den Stadt-Land-Graben aufbrechen

Der Stadt-Land-Graben ist in seiner Bedeutung bereits vielfach erforscht, er wurde in den späten 1960er-Jahren auch als einer der vier bedeutendsten gesellschaftlichen – und somit politischen – Konfliktlinien der Neuzeit definiert (vgl. das 1967 erschienene politikwissenschaftliche Standardwerk Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives von Seymour Lipset und Stein Rokkan).

Das Modell diente in seiner Anwendung jedoch nie als zufriedenstellende Erklärung für politische Entwicklungen in der Schweiz, da es eine kleinräumige politisch-institutionelle Teilung nicht genügend berücksichtigen kann. Die politische Macht der 49 Agglomerationen bleibt limitiert, da die einzelnen Agglomerationsgemeinden bis heute getrennte Einheiten mit einer hohen Autonomie darstellen. Der limitierende Effekt verstärkt sich zusätzlich, da auch innerhalb der Agglomerationen eine soziale Fragmentierung nach Wohngemeinde stattfindet. Diese starke Machtseparation steht jedoch in einem krassen Gegensatz zur zunehmenden ökonomischen und kulturellen Bedeutung der urbanen Räume. Denn die Kernstädte und ihre Umlandgemeinden bilden starke wirtschaftlich-soziale Einheiten und funktionale Lebensräume für Bevölkerung, Wirtschaft, Kultur und Sport.

 

Die Graubereiche zwischen Stadt und Land ins Licht rücken

Im Kontext nationaler Abstimmungen und Wahlen wird deutlich, dass die reine Gegenüberstellung der Städte und der ländlichen Gebiete keineswegs als Erklärung ausreichen kann. Sie repräsentieren zusammen lediglich 53 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Deshalb müssen stattdessen vertiefte Kenntnisse über die politische Ausrichtung verschiedener Gemeindetypen zum standardmässigen Repertoire von Politikanalyst:innen in der Schweiz gehören. Im Fokus stehen insbesondere die Agglomerationsgemeinden, die zahlenmässig den grössten Bevölkerungsanteil beherbergen und in ihrem Wesen äusserst heterogen sind.

 

Stimmenanteile bei Nationalratswahlen, 1991 – 2019

 

Die Notwendigkeit hierfür ist auch durch die politische Zusammensetzung begründet: Der Blick auf die Stimmenanteile der grössten Parteien bei den Nationalratswahlen der letzten 30 Jahre zeigt überdeutlich, wie gross die politischen Unterschiede zwischen Stadt, Land und Agglomeration sind. Für Letztere gilt gemeinhin, dass sie sich in gesellschaftspolitischen Anliegen tendenziell offen für städtische Forderungen zeigt. Bei Fragen zur Wirtschaftsordnung herrschen jedoch gerade in den Deutschschweizer Agglomerationen nach wie vor bürgerliche Reflexe vor.

 

Urbane Lebensrealitäten verstehen und regionale Kenntnisse aufbauen

Die zahlenmässig herausragende Stellung der Agglomerationsbevölkerung verlangt in der politischen Praxis ein vertieftes Verständnis ihrer Lebensrealitäten. Die Agglomeration ist eine vielschichtige, funktionale Einheit und ein identitätsstiftendes Umfeld, stets mit regionalen Besonderheiten gespickt. Gleichzeitig verfügt die Agglomeration über eine starke interne Fragmentierung, bei der insbesondere die Kernstadt weiterhin über eine gesellschaftliche Vorrangstellung verfügt.

Letztlich sind die städtischen Zentren nur zusammen mit ihren Agglomerationen ein politisches Schwergewicht. Denn wer Volksabstimmungen gewinnt, entscheidet fast immer die Agglomeration. Diese Zone ist weit mehr als ein blosser Übergang von Stadt zu Land. Sie ist die Mehrheitsbeschafferin zwischen den städtischen und ländlichen Polen. Gleichzeitig bilden die 49 Agglomerationen und ihre mehreren hundert Gemeinden eine derart heterogene Gruppe, dass nur eine vertiefte Analyse der wirtschafts-, gesellschafts- und regionalpolitischen Faktoren ihre politische Einordnung ermöglicht.

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